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Familienaufstellung – Trauma ohne Ende?

  • paulgamber
  • 13. Nov. 2015
  • 5 Min. Lesezeit

Gerd meldet sich bei einer Familienaufstellung, geleitet vom Großmeister Bert Hellinger höchst selbst, mit einem Anliegen. Gerd klagt über häufige Kopfschmerzen und Migräneanfälle, die ihm kein Arzt erklären konnte. Schnell sind Stellvertreter für ihn selbst und seine Herkunftsfamilie, sogar für seine Großeltern, gefunden. Plötzlich fühlt der Protagonist, der für seinen Großvater aufgestellt ist, einen stechenden Schmerz im Kopf. »Dein Großvater wurde im Zweiten Weltkrieg durch einen Kopfschuss getötet», beeilt sich Bert Hellinger zu sagen. Gerd erinnert sich, dass sein Großvater im Krieg ums Leben kam, von einem Kopfschuss war ihm nichts bekannt. War ja auch egal. Er war froh eine Erklärung für seine bislang unerklärlichen Beschwerden zu haben. Und tatsächlich ging es ihm auch Wochen danach spürbar besser. Bis die Kopfschmerzen und die Migräne wieder zurückkamen.

Gerds Aufstellung dauerte gerade einmal fünfzehn Minuten. Dann war der Fall gelöst. Die nächste Aufstellung wartete nämlich schon. In einer ähnlichen Art und Weise handelte der Meister an diesem Tag noch sechs weitere »Fälle« ab. Wie am Fließband – kurz, ohne Umschweife, zielsicher, wie mit einer höheren Macht im Bunde.

Woher nimmt Bert Hellinger (und nehmen seine Nachahmer) das Recht, in wenigen Minuten über Krankheit und Heilung, sogar über Tod oder Leben zu befinden? Hellinger nennt es einfach »wissendes Feld«, »wissende Seele« oder der »systemische Siebte Sinn«. Er geht von einer »göttlichen Ordnung« aus in der alles seinen Platz habe: die Vorfahren, die Eltern, die Geschwister, die ehernen Gesetze von Schuld und Sühne, Geben und Nehmen. Ja, das Schicksal eines Menschen sei in dieser Ordnung vorbestimmt und ablesbar.

Hellinger bezeichnet seinen Ansatz als phänomenologisch. Ihn interessieren wissenschaftliche Erkenntnisse wenig. Was zählt, ist die »richtige« Schau der Phänomene. Verfüge man wie er über diese Gabe, dann zeige sich das Angeschaute von sich aus etwas, was über das bisher Bekannte hinausgeht: das Größere, das Ganze, die Ordnung, das Schicksal des Einzelnen.

Das Erbe der Ahnen

Hellinger beruft sich unter anderem auf die Mehrgenerationentheorie nach Nathan Ackermann und Ivan Boszormenyi-Nagy in der systemischen Therapie. Nach diesem Modell werden die ungelösten Konflikte einer Generation, zum Beispiel eine Schuld, die man auf sich geladen hat oder erfahrene Traumata, an die Nachkommen weitergereicht. Man könnte sagen, dass die Nachfahren auf einer unbewussten Ebene dazu verdammt sind »die Suppe« ihrer Vorfahren »auszulöffeln«, und zwar so lange, bis das Gleichgewicht wieder hergestellt und die schicksalhafte Dynamik aufgelöst ist. Wen es letztendlich trifft, bleibt bei diesem Modell aber ungeklärt.

Welche wissenschaftlichen Beweise gibt es für diese Theorie? Ein Ansatzpunkt könnte die Epigenetik bieten. Tatsächlich, so hat man herausgefunden, können extreme Erfahrungen der Vorgängergeneration, zum Beispiel Hunger, Vertreibung, Vergewaltigung, gewaltsamer Tod, epigenetisch bis in die dritte Generation weitergegeben werden. Bei epigenetischen Veränderungen ist nicht das Erbgut, die DNA, betroffen, sondern Enzyme, die bestimmte Abschnitte auf der DNA ein- oder ausschalten. Was vererbt wird ist eine erhöhte Anfälligkeit für Stress und mögliche Folgeerkrankungen; es werden jedoch keine inhaltlichen Traumata oder spezifischen Krankheitsbilder (Migräne) weitergegeben.

Es gibt also keinen Determinismus (weil der Großvater durch eine Kugel am Kopf getroffen wurde, bekommt der Enkel Kopfschmerzen). Bei der Epigenetik kommt es auf die Umweltbedingungen an, ob ein Gen ein- oder ausgeschaltet wird. Epigenetisch sind auch die Resilienz-(Widerstands-)Faktoren, die den Ausbruch eines Symptoms verhindern. Die Hirnforschung der letzten Jahre hat vor allem eines gezeigt: Das menschliche Gehirn ist kein deterministischer Apparat und keine programmierbare Erinnerungsfestplatte, sondern ein hochkomplexes autopoietisches System mit eingebauten Selbstreparaturmechanismen. Stichwort: Neuroplastizität. Wie epigenetische Erfahrung verarbeitet, kodiert und umgesetzt wird, ist individuell ganz unterschiedlich und hängt von der Umwelt ab.

Wie ist es um die mysteriöse Rolle der Stellvertreter bestellt?

Das schwer erklärbare Phänomen bei Familienaufstellungen ist, dass die Stellvertreter oftmals die seelischen und körperlichen Empfindungen der dargestellten Personen wahrnehmen, ohne sie zu kennen. Das Phänomen der so genannten repräsentierenden Wahrnehmung kann bis heute nicht vollständig erklärt werden. Ist es das »wissende Feld«, in dem wie auf einer Internet-Cloud alle Erfahrungen extern gespeichert sind? Oder gibt es dafür auch andere Erklärungen, wie zum Beispiel die evolutionäre Fähigkeit zur Empathie, die uns allen angeboren ist. Die Entdeckung der Spiegelneurone im Gehirn macht plausibel, dass wir alle zu ungeahnten empathischen Leistungen fähig sind, wenn es die Situation erfordert. Spiegelneurone sind auch eine mögliche Erklärung für das sogenannte »cold reading«. Gemeint ist die erstaunliche Fähigkeit aus Haltung, Mimik und Gestik des Gegenübers unbewusst zutreffende Wahrnehmungen über eine Person zu machen, die man vorher nie gesehen hat.

Ein nicht unwesentlicher bewusstseinsbildender Faktor ist auch, in welcher körperlichen Haltung man sich selbst zu einer anderen Person befindet. Bei einer Familienaufstellung wird man ja als Stellvertreter von der aufstellenden Person in eine bestimmte Position und Haltung gegenüber den anderen Stellvertretern gebracht. Das hat unmittelbare Auswirkungen auf die eigenen Gefühle und die Beziehungen zu den anderen aufgestellten Personen. Stellen Sie sich vor, Sie sollen sich vor einer anderen Person hinknien, dann fühlen Sie sich automatisch unterlegen. Werden Sie von einer anderen Person umarmt, stellt sich unmittelbar das Gefühl einer tiefen Verbundenheit ein. Es gibt sogar eine universelle Grammatik der Körpersprache. So konnte Peter Schlötter in seiner Dissertation an der Universität Witten/Herdecke mit einer großangelegten Untersuchung (2800 Einzelversuche) empirisch nachweisen, dass bestimmte repräsentierende Wahrnehmungen bei einer Familienaufstellung überindividuell reproduzierbar sind. Er konnte zeigen, dass unterschiedliche Personen (Stellvertreter) tendenziell gleiche Wahrnehmungen bei gleichen Raumpositionen äußern.

False memory Effekte

Bei Familienaufstellungen ist von jeder Menge produzierten »falschen« Erinnerungen (false memory) bei den aufgestellten Personen auszugehen. Ein Phänomen, das der amerikanischen Forscherin Elisabeth Loftus zufolge besonders häufig bei speziellen tiefenpsychologischen Ritualen, zum Beispiel Reinkarnationstherapien, Psychoanalysen oder Hypnosetherapien, auftritt. Dem Klienten wird beispielsweise suggeriert, dass er in seiner Kindheit (oder in einem vorherigen Leben) das Opfer von Gewalt, Vergewaltigung oder sonstigen schlimmen Handlungen gewesen sei, was als Ursache seiner derzeitigen Probleme angesehen wird. Klienten bei einer Familienaufstellung glauben das zumeist, weil es der Aufstellungsleiter so behauptet. Außerdem »beweisen« das ja auch die Stellvertreter durch ihr Verhalten. Der Gruppendruck tut ein Übriges.

Wie steht es um die psychotherapeutischen Effekte von Familienaufstellungen?

Für die Wirksamkeit von Familienaufstellungen wird häufig auf eine Studie verwiesen, die an der Universität Heidelberg durchgeführt wurde. Nach der Teilnahme an einem Aufstellungsseminar zeigten sich bei vielen Probanden eine Verbesserung der psychischen Befindlichkeit sowie bessere soziale Beziehungen. Allerdings waren die Effekte nicht so stabil wie in einer Psychotherapie. Außerdem kamen alle Teilnehmerinnen aus psychosozialen Berufen, sodass davon auszugehen ist, dass sie bereits über Vorerfahrungen verfügten und der Methode gegenüber positiv eingestellt waren. Die Studie sagt auch nichts über die therapeutische Wirkung von Familienaufstellungen aus. Untersucht wurden nur gesunde Personen ohne eine besondere Diagnose.

Die Effekte bei einer Familienaufstellung sind meist selbstreproduzierende, selbsterfüllende Erwartungshaltungen, die im besten Fall über einen zeitlich begrenzten Placeboeffekt nicht hinausgehen. In vielen Fällen führten sie nachweislich zu schweren (Re-)Traumatisierungen.

 
 
 

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