Wie wirken Antidepressiva?
- paulgamber
- 18. Juni 2015
- 5 Min. Lesezeit
Immer mehr Menschen in den Industrienationen klagen über Depressionen und werden medikamentös behandelt. In zunehmendem Maß auch Kinder. Der Umsatz von Antidepressiva geht in die Milliardenhöhe und sichert der Pharmaindustrie ein gutes Geschäft. Doch wie gut wirken moderne Antidepressiva wirklich? Was ist der Wirkmechanismus dieser Antidepressiva? Was sagen Studien?

Um sich ein möglichst objektives Bild über die Wirkung von Antidepressiva machen zu können, reichen einzelne Studien nicht aus. Diese weisen oft Mängel, wie zum Beispiel eine zu geringe Zahl der Probanden, auf, als dass man daraus auf die Gesamtbevölkerung schließen könnte. Fasst man jedoch eine Vielzahl von Einzelstudien zusammen und macht sie vergleichbar, so können statistisch brauchbare Aussagen über die Wirksamkeit einer Medikamentengruppe gemacht werden. Man spricht von sogenannten Metaanalysen.
Wirkung bei generalisierten Angststörungen: mickrig
Eine solche Metaanalysen haben kürzlich Rosario B. Hidalgo, Larry A. Tupler und Jonathan R. T. Davidson vom Department of Psychiatry and Behavioral Sciences an der Duke University in Durham, USA, zu der Frage, wie Antidepressiva bei generalisierten Angststörungen wirken, durchgeführt.
In vielen Metaanalysen, so auch bei Hidalgo, ist die Rede von Effektstärken. Das ist das Maß, das den Ergebnisvergleich über verschiedene Studien hinweg erlaubt: Die Differenz der Mittelwerte wird durch die Standardabweichung dividiert. Ein Wert von 0,2 gibt einen kleinen, von 0,5 einen mittleren, von 0,8 einen großen Effekt an. Zum Vergleich: Der durchschnittliche Placeboeffekt liegt bei 0,45. Der durchschnittliche Effekt von Psychotherapie liegt bei 0,75
Hidalgo und seine Kollegen fanden für die Gruppe von SNRI (Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer): 0.42,BZ (Benzodiapezine): 0.38, SSRI (Selektive Serotonin Wiederaufnahmehemmer): 0.36,
Das sind vergleichsweise bescheidene Ergebnisse. Bedenkt man, dass die viel gepriesenen SSRI ein viel bessere Wirksamkeit vorgaukelten. Die modernen SSRI und SNRI Antidepressiva basieren auf der Hypothese, dass die Depression durch einen Mangel am Hirnbotenstoff Serotonin (umgangssprachlich auch Glückshormon bezeichnet) ausgelöst wird (chemical imbalance theorie). Sorgt man dafür, dass genug Serotonin vorhanden ist, wird das Problem der Depression behoben, so die Annahme. Die Theorie tönt auf den ersten Blick einleuchtend und gut. Doch diese in den 50er Jahren entwickelte Theorie ist wohl viel zu simpel, um eine so komplexe Krankheit wie die Depression und die komplexen Vorgänge im Gehirn zu erklären. Um ein Bild dafür zu gebrauchen: Wer die Uhrzeit ablesen kann, hat noch lange nicht den Mechanismus einer Uhr verstanden.
Negativstudien werden unterdückt
Wie die Pharmaindustrie angesichts dieser mickrigen Ergebnisse mogelt, haben vor einigen Jahren Mitarbeiter der schwedischen Arzneimittelbehörde festgestellt. Ihr Urteil: Jede Empfehlung eines selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmers (SSRI), die sich an den veröffentlichten Studien orientiert, beruht auf verzerrter Datenlage. Dies wird jetzt durch die bislang umfangreichste Analyse dieser Art bestätigt. Erick H Turner von der Oregon Health and Science University in Portland und sein Team glichen die der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde Food and Drug Administration (FDA) aus 74 Studien vorliegenden Daten zu zwölf Antidepressiva, überwiegend SSRI, mit den publizierten Ergebnissen ab. Von den 38 Studien mit positivem Ergebnis ist nur eine nicht veröffentlicht. Von den 36 Negativstudien bleiben hingegen 22 unpubliziert. 11 weitere sind zwar in Zeitschriften erschienen, aber so verfasst, dass sie fälschlich ein positives Ergebnis vermitteln. Von den insgesamt 36 Negativstudien sind also nur 3 als solche veröffentlicht. Wertet man nur die öffentlich zugänglichen Studien aus, ergibt sich bei einem Anteil positiver Ergebnisse von 94% der Eindruck kalkulierbarer Wirksamkeit. Von den der FDA insgesamt vorliegenden Untersuchungen fallen jedoch nur 51% positiv aus.
Die gleiche Schieflage findet sich bei der berichteten Effektstärke. Nach den bei der FDA verfügbaren Daten ist sie gering. In den veröffentlichten Studien wird aber eine um bis 70% höhere Effektstärke angegeben. Keiner der von der FDA ermittelten Effektstärken erreicht 0,5, ein Effekt, der als "mittel"eingestuft wird und leicht über dem Placeboeffekt liegt. Hingegen soll die Effektstärke nach den in den Journals veröffentlichten Daten bei vier der zwölf Antidepressiva über 0,5 liegen (siehe Tabelle). Aber selbst die Daten der FDA erlauben keine zuverlässige Abwägung von Nutzen und Schaden, da auch auf der Schadenseite manipuliert wird. So werden Störwirkungen verschleiert, wie beispielsweise in Studien mit SSRI bei depressiven Kindern. Immer noch besteht das Problem, dass sich hinter Angaben wie "emotionale Labilität" schwerwiegende Ereignisse verbergen, von Suizidgedanken bis zur ausgeführten Selbsttötung.

Antidepressiva – nur ein (teures) Placebo?
Placebos sind Medikamente ohne Wirkstoff. Scheinmedikamente. Auf englisch werden Placebos häufig als Sugar Pills, also als Zuckerpillen bezeichnet. Das erstaunliche ist nun, dass diese Placebos trotzdem wirken können. Schmerzen werden gelindert und Beschwerden verschwinden. Solche Effekte können erstaunlicherweise physiologisch gemessen werden, z.B. werden die selben Hirnregionen wie bei den „richtigen Medikamenten“ aktiviert. Das Interesse am Placebo-Effekt ist in den letzten Jahren erwacht.
Alle neuen Medikamente müssen zur Zulassung mit Placebos verglichen werden. Sie müssen beweisen, dass der eingesetzte Wirkstoff wirksam ist. Das neue Medikament muss besser wirken als ein Scheinmedikament. Wenn also die Effektstärke, die gemessene Wirksamkeit von Antidepressiva, die von Placebos nicht wirklich übersteigt, liegt die Vermutung nahe, dass Antidepressiva nichts anders als teure Placebos sind.
Dieser Frage nachgegangen ist Irving Kirsch, ein britischer Psychologie-Professor an der Harvard Medical School. Zu seinen Forschungsgebieten gehört der Placeboeffekt. Irving Kirsch begann für seine Placeboforschung die Placbogruppen der wissenschaftlichen Literatur der Antidepressiva zu analysieren. Konkret machte er eine Metaanalyse. Bei seiner Recherche fand Kirsch, dass Placebos annähernd so gut wirkten wie die Antidepressiva. Er war irritiert, da er die Medikamente vom Pharmamarketing als hochwirksame Medikamente kennenlernte. Er bekam vielfältige Reaktionen: Große Ablehnung seiner Methode wie große Unterstützung.
Bei der Analyse wurde klar, dass noch mehr Daten vorhanden sein mussten. Auch Kirsch verlangte von der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA die Herausgabe aller Studienrohdaten vor der Zulassung, damit er eine eigene Analysen durchführen konnte. Und Siehe da: Viele Studien wurden gar nicht veröffentlicht. Und dies sind vor allem Studien, die „negative Resultate“ zeigten. Die vorhandene wissenschaftliche Literatur war stark irreführend. Schlechte Studien wurden nicht veröffentlicht und gute im Gegenzug mehrfach.
Irving Kirsch wiederholte mit den neuen FDA-Studiendaten seine Metaanalyse. Der Unterschied zwischen Placebos und den Antidepressiva schmolz noch mehr. Zwischen den Antidepressiva und den Placebos gab es einen kleinen, im klinischen Krankheitsalltag kaum feststellbaren Unterschied.
Kirsch fragte sich, was den kleinen Unterschied zwischen den Antidepressivas und den Placebos ausmachen könnte. Er prüfte verschiedene Thesen. Schliesslich konnte er es sich nur erklären, dass Antidepressivas „Super-Placebos“ sind. Placebos sind nämlich nicht gleich Placebos. Zweimal täglich ein Scheinmedikament wirkt besser als eines. Und eine Placebospritze wirkt besser als zwei tägliche Scheinmedikamente. Seine Erklärung ist, dass während den Studien die Probanden merkten, ob sie das aktive Medikament mit dem chemischen Wirkstoff oder das Scheinmedikament ohne Wirkstoff erhielten. Jene mit dem aktiven Wirkstoff litten nämlich unter Nebenwirkungen wie Übelkeit oder Magenbeschwerden, die anderen nicht. Es scheint folgender (unbewusste) Ablauf vorhanden zu sein: Wow, ich habe den aktiven Wirkstoff und mir wird es sicher bald besser gehen. Die Probanden scheinen davon ausgegangen zu sein, dass der Wirkstoff nützt. Diese könnten deshalb einen stärkeren Placeboeffekt entwickelt haben.
Die These von Irving Kirsch, dass Antidepressiva einfach Super-Placebos sind, wird gestützt durch andere Studien. Antidepressiva wurden auch mit Medikamenten aus anderen Bereichen der Medizin, z.B. Medikamenten gegen Magenbeschwerden, verglichen. Das sind also Scheinmedikamente gegen die Depression, aber aktive Medikamente gegen z.B. Magenbeschwerden. Es sind also aktive Placebos. Die aktiven Placebos können auch Nebenwirkungen verursachen. Die aktiven Placebos waren gleich wirksam wie Antidepressiva. Der Unterschied scheint auf dem Vorhandensein von Nebenwirkungen zu beruhen. Zudem ist der Effekt der Antidepressiva nicht dosisabhängig, im Gegensatz zu deren Nebenwirkungen.
Quellen:
Rosario B. Hidalgo, Larry A. Tupler, Jonathan R. T. Davidson: An effect-size analysis of pharmacologic treatments for generalized anxiety disorder. Anxiety and Traumatic Stress Program, Department of Psychiatry and Behavioral Sciences, Duke University Medical Center, Durham, NC, USA. Psychopharm. Journal of Psychopharmacology, 21(8) (2007) 864–872
Arzneitelegramm , 39. Jahrgang, 15. Ferbr. 2008
Erick H. Turner, M.D., Annette M. Matthews, M.D., Eftihia Linardatos, B.S., Robert A. Tell, L.C.S.W., and Robert Rosenthal, Ph.D.: Selective Publication of Antidepressant Trials and Its Influence on Apparent Efficacy. N Engl J Med 2008; 358:252-260January 17, 2008
I. Kirsch et. al.: The emperor’s new drugs: An analysis of antidepressant medication data submitted to the U.S. Food and Drug Administration, Prevention & Treatment, 2002, 5(1)
Deutschsprachiger Artikel: Des Kaisers neue Drogen, Der Freitag, 19. Dez. 2009
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