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Wie Bindung entsteht

  • paulgamber
  • 13. Juni 2015
  • 8 Min. Lesezeit

Bindung und Beziehung sind das halbe Leben und für die Entwicklung eines Menschen von allergrößter Bedeutung. In den letzten Jahren hat man viel über diesen Zusammenhang geforscht und gelernt. Zu diesen Erkenntnissen gehört, dass Bindung und spätere Bindungsfähigkeit quasi schon im Mutterleib beginnt und einem biologischen Programm folgt.

Wie sich das Bindungssystem entwickelt

Das Bindungsverhalten des Menschen gleicht in vieler Hinsicht dem von höheren Primaten (Menschenaffen) und anderen Säugetieren, was darauf hindeutet, dass seine Ursprünge tief in der Evolution wurzeln. Pioniere auf dem Feld der Bindungsforschung waren der englische Arzt John Bowlby und seine Kollegin Mary Ainsworth von der Tavistock Klinik in London. Bowlby, der eine Ausbildung als Psychoanalytiker hatte, wandte sich in den 1950-er und 60-er Jahren der Tierverhaltensforschung zu, um seine Thesen zu untersuchen. Er beschreibt das Bindungssystem zwischen Mutter und Kind als ein biologisch zielgerichtetes System, wobei sich die Verhaltensweisen von Mutter und Kind gegenseitig bedingen. Das Neugeborene ist demnach keine tabula rasa (leeres Blatt Papier, oder leere Festplatte, wie man heute sagen würde), sondern ein mit Trieben und Instinkten ausgestattetes Wesen, das angeborenermaßen beziehungsweise instinktiv eine bestimmte Umwelt »erwartet«, auf das sein Instinktsystem ausgerichtet ist. Es kommt sozusagen mit einem angeborenen Schema seiner Umwelt zur Welt. Zu dieser »erwarteten« Umwelt gehört vor allem die Mutter, die Wärme ihres Körpers, ihre Stimme und ihr Gesicht, ihre Bewegungen, sogar ihr Geruch.

  • Der Säugling »erwartet«, noch bevor er geboren ist, eine bestimmte Umwelt. Dazu gehört vor allem die Mutter, ihre Stimme, Geruch und besondere Verhaltensweisen, die sie als Mutter auszeichnen.

Der Stoff, aus dem die Bindung gemacht ist

Wie man herausgefunden hat, ist die Bindung zwischen Mutter und Kind sogar durch Hormone gesteuert: Oxytocin (zu deutsch: leicht gebärend) ist ein Hormon, das bereits beim Zeugungsakt ausgeschüttet wird. Es spielt beim Gebärvorgang eine Rolle und beeinflusst nicht nur das Verhalten zwischen Mutter und Kind, sondern auch ganz allgemein soziale Interaktionen. Das Oxytocin wurde zuerst entdeckt und erforscht bei der Prariewühlmaus, die in Nordamerika heimisch ist. Die ist nämlich ein Ausbund an Partnertreue und Familiensinn, wovon sich alle anderen Spezies eine Scheibe abschneiden können. Schuld daran ist aber nicht etwa ein moralisches Bewusstsein, sondern jenes besondere Bindungshormon, das die Tiere mehr oder weniger zu diesem Verhalten »zwingt«.

Mutter u. Kind.jpg

Urvertrauen entwickeln

Das Kind kommt noch mit einer ganzen Reihe von Instinkten zur Welt. Das Neugeborene sucht instinktiv die Brust der Mutter, um zu saugen, und wird durch diesen Vorgang – wie übrigens auch die Mutter - mit Oxytocin regelrecht überschwemmt. Das löst bei beiden ein tiefes Gefühl der Zusammengehörigkeit – sprich: Bindung – aus. Auch die Lautäußerungen und die Berührungen von Mutter und Kind führen immer wieder zu denselben Hormonausschüttungen und verstärken das Band zwischen ihnen. Nach Ansicht vieler Entwicklungspsychologen wird auf diese Weise das so genannte Urvertrauen gebildet. Dieses Urvertrauen ist wichtig für die Selbstständigkeitsentwicklung. Nach dem ersten Lebensjahr gibt es bereits Anzeichen für eine beginnende Selbstständigkeit des Kindes. Auch wenn die Mutter einmal für längere Zeit aus dem Blickfeld gerät, reagiert das Kind nicht mehr mit Angst und Weinen. Die Spiel- und Explorationsdistanz – so nennen es die Fachwissenschaftler - zur Mutter vergrößert sich. Demgegenüber werden Signale, die die Nähe zur Mutter einfordern (Schreien, Weinen) seltener. Mit der Zunahme der motorischen Beweglichkeit (Gehen lernen) und des sozialen Spiels mit Gleichaltrigen werden weitere Schritte in Richtung einer Selbstständigkeit unternommen.

Welche Rolle spielen nun die Väter in dem System Bindung? Biologisch gesehen spielen sie für die Bindung eher eine untergeordnete Rolle – sozial dagegen eine sehr bedeutsame. Hängt nämlich der Partnersegen schief, kann das durchaus Auswirkungen auf das hormonale System der Mutter haben. Außerdem sind die Väter natürlich wichtige Bezugs- und Identifikationspersonen für ihre Kinder. Meist sind sie auch die besseren »Trainer« für die heranreifenden motorischen Fähigkeiten des Kindes (Fernziel: Fußballprofi).

Zu ersten Brüchen in dieser biologisch bestimmten Symbiose kann es kommen, wenn es häufige und ungewöhnlich lange Trennungsphasen gibt. Wenn die Grundbedürfnisse des Kleinkindes nach körperlicher Nähe und Stimulation durch die Mutter nicht mehr befriedigt werden. Das System kann schon vor der Geburt im Mutterleib gestört sein, wenn die Mutter das Kind innerlich ablehnt, wenig mit ihm »spricht« und es am liebsten ignorieren würde. Auch Drogenmissbrauch kann das hormonale System durcheinander bringen. Das Neugeborene kann sich ja keinen Reim darauf machen – seine Instinkte »sagen« ihm aber, dass auf diese Bindung kein Verlass ist und dass es seine Erwartungen und Bedürfnisbefriedigung umorientieren muss. Das Urvertrauen gerät ins Wanken.

Von »Kuschel-« und »Drahtmüttern«

Nach Ansicht vieler Wissenschaftler ist aber gerade dieses Urvertrauen notwendig, damit sich das Kind sicher, satt und wohl genug fühlt, um sich aktiv mit seiner Umwelt auseinander zu setzten, zu spielen, zu explorieren und zu experimentieren. Tierexperimente des Forscherpaares Harry und Clara Harlow in den 1950-er Jahren belegen das in dramatischer Weise: Junge Rhesusäffchen zeigen, wenn sie nur von einer künstlichen »Drahtmutter«, einem Drahtgestell, an dem eine Milchflasche hängt, zwar ernährt werden, aber nicht die notwendige körperliche Zuwendung bekommen – so gut wie kein Spiel- oder Erkundungsverhalten. Das Vorhandensein einer mit Mull überzogenen »Stoffmutter« , an die sich die Tiere, nachdem sie die Milch bei der »Drahtmutter« getrunken hatten, ankuschelten, bewirkte schon erheblich mehr Spiel und Erkundung.

Bringt man die »Drahtmutter-Kinder« später mit Artgenossen zusammen, so zeigen sie ein völlig unangemessenes Sozialverhalten – entweder reagieren sie aggressiv auf die Annäherung von Artgenossen oder sie ziehen sich ängstlich zurück. Es zeigte sich außerdem, dass sie auch zu weiteren sozialen Entwicklungsschritten unfähig und eigentlich nicht überlebensfähig sind. Das sind zwar extreme Entwicklungen wie sie nur im Tierexperiment erforscht werden.

Was sagen diese Untersuchungsergebnisse für den Menschen aus? Wie andere Säugetierjunge spielen und explorieren auch Menschenkinder ihre Umwelt erst, wenn sie sich sicher fühlen, wenn ihre Grundbedürfnisse befriedigt und sie frei von Furcht und inneren Spannungszuständen sind. Das setzt zunächst eine sichere Bindung voraus. Die Bindung zwischen Mutter und Kind ist in den ersten Lebensmonaten ganz wichtig und durch keine andere Person ersetzbar. Wenn sich das Urvertrauen entwickelt hat, kann das Kind auch eine gute Bindung zu anderen Personen eingehen, zu Erziehern in Kindergrippe und Kindergarten.

  • Das »Kuschel-« und »Drahtmutter-Syndrom« zeigt: Bindung erfordert mehr als nur orale Befriedigung, nämlich körperliche Nähe, Wärme und das Gefühl von Sicherheit.

Das innere »Arbeitsmodell« des Kindes

Die Psychologen gehen davon aus, dass sich das Kind aufgrund der Qualität der Bindung ein inneres »Arbeitsmodell« von der »Welt da draußen« aufbaut. Indem es sich in seiner Beziehung zu seinen Bezugspersonen bezüglich der Vorhersagbarkeit, Erreichbarkeit und der Zuneigung vergewissert, andererseits seine eigene Person erlebt als jemand, der ebenso für seine Bindungspersonen »wichtig« ist, erlebt es Sicherheit und Geborgenheit. Kognitive und emotionale Entwicklung stehen in einem engen Zusammenhang. Und das hat ganz konkrete Konsequenzen für die Erziehung. Auch pädagogische Moden und Methoden müssen vor diesem Hintergrund hinterfragt werden. Zum Beispiel die: Ist es gut, wenn schon Kleinkinder eine vorschulische Erziehung bekommen, ein Musik, Mathe, fremde Sprachen von fremden Personen erlernen sollen? Das sind ja Fragen, die sich viele Eltern stellen. Hier kann die Bindungsforschung Antworten geben. Auch hier zeigt sich, dass das Lernen des Kindes eng mit der Bindungsqualität und dem Gefühl der Sicherheit zusammenhängt. Ist dies gegeben, so entwickelt das Kind von sich aus genügend Neugier und Motivation, um Neues zu erlernen. Dann ist es sogar gut und seiner geistigen Entwicklung förderlich, wenn sich das Kind spielerisch mit Zähl und Rechenaufgaben, Musikmachen oder einer fremden Sprache beschäftigen kann. Kinder lernen eine oder gar mehrere Fremdsprachen mühelos, wenn sie von einer ihm vertrauten Person gesprochen wird. Es heißt ja nicht umsonst »Muttersprache«.

  • Wenn sich das Schema des Urvertrauens und des Annehmens der Umwelt nicht vollständig entwickeln kann, hat das Auswirkungen auf die weitere Entwicklung. Es bleiben nämlich innere »Fragen«: Kann ich mich diesem Menschen, dieser Sache zuwenden oder muss ich befürchten enttäuscht zu werden? Ich kann eigentlich nur der bekannten Umgebung vertrauen, nicht aber der großen unbekannten Welt. Die Lust, auch die große Welt kennen zu lernen, mit den Möglichkeiten zu experimentieren und lebenswichtige Erfahrungen zu machen, kann dadurch verlorengehen.

Bindungstypen

Bindungsverhalten kann unterschiedlich gestört sein. Das kann sogar hormonelle Gründe haben. Mangelndes Bindungsverhalten kann auch in späteren Entwicklungsphasen – etwa im Vorschulalter – zum Teil kompensiert werden. Es gibt auch individuelle Unterschiede, zum Beispiel unterschiedliche Resilienz (Widerstandsfähigkeit). Bindungssicherheit hat vor allem mit der Fähigkeit, loszulassen und sich Neuem zuwenden können, zu tun.

Wenn Menschen etwas Neues lernen sollen, von Altem loslassen müssen, sich verändern, brauchen sie ganz besonders das Gefühl, verbunden zu sein, auf sicherem Fundament zu stehen. Wie leicht oder schwer das fällt, hängt mit früheren Erfahrungen der Bindung und Trennung zusammen, die sich bereits in den ersten Lebensjahren ausbilden. Aus vielen Untersuchungen und Beobachtungen des Kleinkind- und des späteren Erwachsenenverhaltens lassen sich drei unterschiedliche Bindungstypen unterscheiden:

Sichere Bindung: Je sicherer und wohlbehüteter sich ein Kind in seinen ersten Lebensjahren fühlt, desto leichter fallen ihm später notwendige Entwicklungsschritte, die auch immer mit Unsicherheiten und Loslassenkönnen verbunden sind. Solche Kinder entwickeln ein stabiles Urvertrauen. Erscheint die Mutter, kommen sie kurz vorbei zur Begrüßung und um zu kuscheln, und ziehen dann wieder los, um auf dem Spielplatz mit anderen Kindern zusammen die Welt zu erkunden. Bindung und Neugier sind zwei Grundbedürfnisse, die eng miteinender gekoppelt sind. Angst vor Trennung und Verlust – weil sich das Kind der Bindung zur Mutter nicht sicher ist - dagegen behindert die kindliche Entdeckerlust.

Unsichere Bindung: Wer als Kleinkind dagegen viele Versagungen und Zurückweisungen erlebt hat, dessen Bedürfnisse nach Kuscheleinheiten und Nähe nicht gestillt wurden, kann zu einem Vermeider werden. Das Kind hat gelernt, das eigene Bedürfnis nach Anlehnung, und die Ängste, die mit der Zurückweisung oder dem Keine-Zeit-haben der Mutter verbunden sind, zu unterdrücken. Diese Kinder gebärden sich bald so, als seien sie sehr selbstständig und bräuchten niemanden, an den sie sich anlehnen können. Sie funktionieren geradezu vorbildlich, sie schreien, weinen und meckern nicht, und fordern auch keine Nähe mehr ein. Als Erwachsene haben sie aber oft Probleme, sich auf Beziehungen einzulassen, sind unstetig und wechseln häufig den Partner. Beim Loslassen zeigen sie sich oft cool und gelassen nach außen hin, sehnen sich aber insgeheim nach Bindung.

Unsicher-ambivalente Bindung: Diese Kinder tun sich später am schwersten, denn sie haben vielleicht eine Mutter erlebt, die zwischen Zuwendung und Zurückweisung, zwischen Desinteresse und totaler Vereinnahmung schwankte. Das Verhalten der wichtigsten Bezugsperson wird somit unberechenbar. Das Kind beginnt zu klammern, denn es kann sich nicht darauf verlassen, dass diese Person wieder zurück kommt. Als Erwachsene haben ehemals emotional verunsicherte Kinder große Angst vor Veränderungen, sie neigen dazu, sich in Beziehungen zu verstricken, brauchen meist erst einen neuen Partner oder einen neuen Job, bevor sie sich von Altem lösen können.

Was im Gehirn des Kindes passiert

Viele Hirnforscher sind sich inzwischen einig: durch Bindung und Liebe - und durch dessen Fehlen - wird die Architektur des sich entwickelnden Gehirns ganz entscheidend mitbestimmt. Liebe und körperliche Zuwendung, so fand man heraus, haben eine Flut von biologischen und hirnphysiologischen Prozessen zur Folge. Nicht nur das bindungsstiftende Oxytocin, sondern auch der Sicherheit vermittelnde »Wohlfühl-« Botenstoff Serotonin wird verstärkt gebildet und der »Aufreger-« Botenstoff Dopamin (»Was kostet die Welt?«), der beim Kind Spiel- und Entdeckerlaune hervorruft. Diese Botenstoffe fördern zugleich das Zellwachstum in den Synapsen des Gehirns. Intelligenz, darunter wird heute nicht nur die abstrakte sprachliche und mathematische Intelligenz verstanden, sondern auch die emotionale und soziale - hat zwar einen genetischen Faktor, der muss aber wie bei allen genetischen Anlagefaktoren auf Umweltbedingungen treffen, die ihn aktivieren. Der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget erkannte schon in den 1920-er Jahren, dass kognitive, soziale und emotionale Entwicklung in einem engen Zusammenhang miteinander stehen und sich wechselseitig bedingen. So lernt zum Beispiel das Kind durch aktive Auseinendersetzung mit seiner Umwelt, dass nicht alle Vierbeiner Hunde sind, sondern dass es andere Unterklassen gibt: Katzen, Nager und natürlich auch ganz große Tiere wie Elefant oder Giraffe. Dass nicht alle Männer Papa sind. Es fragt sich, was dahinter steckt, wenn Mutti böse guckt, warum der Haushund sich knurrend abwendet, wenn es ihm mit seinen kleinen Fingern in die Schnauze zwickt, und dass das fremde Baby in der Kindergrippe ganz ähnlich reagiert. Später lernt es, weshalb man einen Turm aus Holzklötzchen höher bauen kann, wenn man die Klötzchen versetzt aufschichtet. Es lernt, dass es in anderen Familien ganz anders als zuhause zugeht und dass es dort andere Regeln und Normen gibt. Das alles setzt eine sichere Bindung voraus.

Der Hirnforscher Gerald Hüther spricht in diesem Zusammenhang vom Konzept der nutzungsabhängigen Gehirnentwicklung. Es entwickeln sich vor allem jene Hirnstrukturen, die stark genutzt werden. Das bedeutet, dass vor allem darauf ankommt, dem Kind sinnvolle Angebote zu machen – weniger, dass man Druck zum Lernen auf es ausübt oder sich selbst überlässt.

  • Wir machen uns zu wenig bewusst, wie wir durch unser Erziehungsverhalten und unser Vorbild die Gehirne unserer Kinder mit formen. Erziehung beginnt in den Gehirnen der Erwachsenen und endet im Gehirn des Kindes.

 
 
 

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